Über GELD, DAS MAN NICHT ESSEN KANN

Ich lese gerade das Buch „Die ersten Amerikaner – Eine Geschichte der Indianer“ von Thomas Jeier. Das folgende Zitat im Einführungskapitel „Indianer – gibt es die noch?“ hat in mir lange nachgehallt:

Wir Indianer leben heute in einer Welt der Verwirrung. Das ist es, die Verwirrung in unserem Leben. Wir sind Indianer und wollen nach Art der Indianer leben. Der Weiße Mann erzählt uns, dass wir wie die Weißen leben müssen, wenn wir in dieser Welt vorankommen wollen. Aber wie können wir etwas sein, zu dem wir nicht geboren sind?“ – Ben Black Elk, Oglala-Lakota, 1968

Genau wie die Indianer Mitte des letzten Jahrhunderts, und vermutlich auch heute noch, lebt mittlerweile auch die Mehrheit der „Weißen“ und mit ihnen Menschen aller anderen Hautfarben in einer Welt der Verwirrung. Wir haben kollektiv die Orientierung verloren und tun alles, um nicht den Anschluss zu verlieren und in dieser Welt voran zu kommen. Aber gleichzeitig merken wir immer mehr, dass sich diese Welt nicht richtig anfühlt, dass sie gegen unsere Natur gestellt ist. 

Heutzutage sind wir alle Indianer, denn Ben Black Elk hat mit seinem Zitat eine Problematik beschrieben, die dem Rest der Menschheit noch bevorstand. 1968 war die Sowjetunion und die mit ihr verbündeten Ostblockstaaten ein Gegenspieler der kapitalistischen Westens, der der Globalisierung des westlichen Wirtschaftsmodells in weiten Teilen der Welt noch einen Riegel vorschob. Mit dem Zusammenbruch der Sowjetunion vor 30 Jahren setzte sich der Kapitalismus dann aber auch in den osteuropäischen Ländern und schließlich – bis auf einige wenige Ausnahmen wie Nordkorea – weltweit durch. Und nachdem inzwischen auch China auf einem kapitalistischen Betriebssystem fußt, kennt das Kapital praktisch keine geographische Grenze mehr. 

Fatalerweise bezieht sich der Begriff „Wettbewerbsfähigkeit“ in dieser globalisierten Form des Kapitalismus nicht länger nur auf Unternehmen, die mit ihren Produkten um Kunden konkurrieren, sondern immer mehr auf Länder, die im Wettbewerb um die Ansiedlung von global agierenden Unternehmen stehen. Damit hat sich der Spieß umgedreht oder besser gesagt: Der Bock ist zum Gärtner geworden. Denn nun bestimmen nicht mehr die Staaten, bzw. ihre vom Volk gewählten Vertreter, die Spielregeln des sozialen Miteinanders, sondern profitorientierte Unternehmen und deren Anleger. Sie investieren ihr Geld nur dort, wo die Arbeitsbestimmungen, Rechtslage, Sozialabgaben und Umweltgesetze für sie am günstigsten sind. Die soziale Schere weitet sich so immer schneller und sämtliches Kapital und alle Macht akkumulieren sich bei dem reichen einen Prozent der Weltbevölkerung.

So haben wir auf globaler Ebene ein monströses Förderband erschaffen, das von der Gier nach Geld angetrieben wird und auf dem kostenlose Natur in giftigen Müll umgewandelt wird. An den beiden Enden dieses Fließbandes wurden die restlichen 99% der Menschheit entweder als Arbeits- oder als Konsumsklaven eingespannt.  

Der globale Süden wurde dabei zu einem rechtsfreien Raum degradiert, an dessen Ressourcen man sich nahezu kostenlos bedienen und in dem man seinen Müll genauso kostengünstig wieder entsorgen kann.  Doch auch das in sich oft uneins und gespaltene Europa wurde in den letzten Jahren von einem aktiven Mitgestalter und Profiteur in eine passive Zuschauerrolle gedrängt. Die USA und China haben das gesamte Förderband – von der Extraktion über die Produktion bis zur Vermarktung – inzwischen fest im Griff. 

Während die USA, genau wie Europa, bei der Produktion ganz klar von China abgehängt wurde, nehmen sie beim Thema Digitalisierung aktuell noch eine Vorreiterrolle ein. Für Europa sehen die Zukunftschancen in diesen Bereichen sehr schlecht aus. Die Entwicklungsrückstände zu Unternehmen wie Google, Amazon oder Huawei sind nicht mehr aufzuholen und Arbeitsbedingungen wie in China wollen wir hier auch nicht einführen. Über kurz oder lang werden die letzten europäischen Marktführer und Industrien dieser übermächtigen Konkurrenz zum Opfer fallen. Unsere Wirtschaft wird sich zwischen diesen beiden großen Mahlrädern vermutlich komplett auflösen und womöglich ergeht es uns bald ganz ähnlich wie den Indianern.

Uns Europäern droht also ein „Weniger“ aber ich versuche in diesem Blog ja gerade das „Mehr“ in dem „Weniger“ zu erkunden und im Falle von Europa brauche ich auch nicht allzu viel Fantasie, um es zu entdecken: 

Wenn wir in den klassischen Wirtschaftsbereichen sowieso bald abgehängt werden, warum gehen wir dann nicht einen komplett neuen Weg? Einen ganz eigenen Weg, der auf unseren großen gesellschaftlichen Traditionen und Errungenschaften aufbaut, der soziale Gerechtigkeit in den Vordergrund stellt und unsere Beziehung zur Natur langfristig harmonisiert. 

Der Zeitpunkt für einen rigorosen Neuanfang könnte nicht besser sein. Die Corona-Krise hat uns vielleicht zum ersten Mal in der modernen Geschichte gezeigt, dass die Politik in Zeiten, in denen Gefahr droht, alles ermöglichen kann und Spielregeln jederzeit geändert werden können. Jetzt wäre der richtige Moment, um als Europäer zusammen zu stehen und eine gemeinsame Europäische Verfassung zu beschließen. Die Verfassung müsste ähnlich visionär sein, wie die Verfassung der Gründungsväter in Amerika von 1776 und genauso disruptiv wie die Geld- und Daten-fixierten Ausgeburten aus dem Silicon Valley. Sie wäre sozusagen ein neues Betriebssystem des gesellschaftlichen Miteinanders, das über nur einige wenige Schnittstellen mit dem des globalen Kapitalismus kompatibel wäre. In den wichtigsten sozialen und ökologischen Fragen würde der neue gesellschaftliche Vertrag so anders ausgestaltet sein, dass Unternehmen, die noch auf dem alten Betriebssystem laufen nicht andocken und mitmachen könnten. Ein schöneres Geschenk könnten wir den nachfolgenden Generationen nicht machen.

Das wäre dann echte Innovation und sobald wir hier die ersten Schritte unternehmen, bauen wir eine neue Kompetenz auf, die die USA und China so schnell nicht aufholen können, weil ihnen der gesellschaftliche Überbau fehlt. Mit der Zeit könnten wir so in Europa eine Gesellschaft etablieren, durchaus auch mit innovativen Technologien versehen, mit persönlichen Freiheiten, einem nachhaltigen Umgang mit der Umwelt, einer gerechteren Vermögensverteilung und einem hohen Lebensstandard für die breite Bevölkerung, dass auch andere Staaten ein ähnliches Upgrade ihres gesellschaftlichen Betriebssystems in Betracht ziehen. 

Veränderung durch Verabredung und Vereinbarung auf globaler Ebene ist vermutlich nicht möglich aber wenn ein Wirtschaftsraum wie die EU geschlossen mit einem guten Beispiel vorangehen würde, so könnten weitere dem diesem Beispiel folgen. Und irgendwann ist es dann vielleicht der Raubtierkapitalismus, der einsam und allein in ein Reservat gesperrt wird.