In einer Art Selbsthilfegruppe für Menschen, die den inneren Drang verspüren, etwas gegen die zahllosen Fehlentwicklungen in unserer Gesellschaft zu unternehmen, wurde ich kürzlich in eine hitzige Diskussion verwickelt, mit der ich gerade in diesem Teilnehmerkreis nie gerechnet hätte.
Es ging um die Verantwortung des Konsumenten, durch seine Kaufentscheidungen und sein Konsumverhalten etwas zum Positiven zu verändern. Natürlich stimme ich grundsätzlich zu, dass jeder von uns sein Konsumverhalten immer wieder sehr bewusst reflektieren und gegebenenfalls anpassen sollte, aber ich halte das Argument, dass die Verantwortung für einen Wandel zum Positiven bei den Konsumenten liegt, für falsch und sogar gefährlich, weil es die Unternehmen im Grunde aus ihrer moralischen Verantwortung entlässt. Wenn es eine Nachfrage gibt, so die Logik, dann darf sie auch befriedigt werden und der Konsument wird in die Verantwortung genommen, bitteschön etwas daran zu ändern, wie und was er konsumiert.
Aber eins nach dem anderen. Bevor ich im Detail auf diese Argumentation eingehe und versuchen werde, den ihr zugrunde liegenden Fehler zu erklären, möchte ich kurz über mich selbst reflektieren. Warum hat mich diese Argumentation emotional so berührt? Was war der Auslöser dafür, dass ich mich auf eine so hitzige Diskussion eingelassen habe?
Wenn ich darüber nachdenke, kommen mir zwei ganz ähnlich gelagerte Fehlannahmen in den Sinn: zum einen Margaret Thatcher und Ronald Reagan und zum anderen der „Hühnerkäfig der Armut“ aus dem Roman „Der weiße Tiger“* von Aravind Adiga. Neoliberale wie Thatcher und Reagan wollen den Bock zum Gärtner machen. Sie behaupten, dass der Staat mit seinen vielen Regulierungen und Sozialleistungen dem Gemeinwohl ebenso im Wege steht wie die Gewerkschaften und dass es besser wäre, wenn der Markt völlig frei agieren könnte und sich dann alles wie von selbst zum Guten wenden würde. Der Begriff „Hühnerkäfig der Armut“ ist eine zentrale Metapher des oben erwähnten Romans über die indische Kastengesellschaft und steht für einen Käfig, der eigentlich keiner ist, denn das einzige, was die Hühner daran hindert, aus dem Käfig zu entkommen, sind die anderen Hühner, die sie immer wieder hineinziehen. Ich sehe in beiden eine Nähe zum Narrativ, dass der Verbraucher der Hauptverantwortliche für Veränderungen zum Besseren ist. Einerseits kann der Markt weiter unreguliert nach Profit streben, andererseits liegt die Verantwortung bei jedem Einzelnen von uns. Statt gemeinsam aus dem Käfig auszubrechen, zeigen wir mit dem Finger aufeinander und schieben uns oft aus einer überhöhten moralischen Position heraus gegenseitig die Schuld für die globalen Fehlentwicklungen zu. Beides halte ich für grundlegend falsch und es triggert bei mir eine emotionale Reaktion.
Ok, nachdem ich meine doch etwas emotionale Reaktion für mich reflektiert habe, möchte ich den Mechanismus, der dem heutigen Konsumverhalten maßgeblich zugrunde liegt, etwas genauer beleuchten. Der wohl wichtigste Treiber für die Entwicklung des Konsumverhaltens der Menschen in der westlichen Welt seit Ende des 2. Weltkrieges ist die Marge, die ein Unternehmen mit seinen Produkten erzielt. Und genau diese Marge macht die Unternehmen mit den schlechtesten Produkten zu den Erfolgreichsten und verschafft ihnen einen Vorteil gegenüber uns Konsumenten, gegen den wir als Einzelne nicht ankommen.
Wie komme ich zu dieser Annahme? Ich bin darauf gestoßen, als ich einen kostenlosen E-Commerce-Ratgeber („ECOM SECRETS“) gelesen habe. Ich hatte wirklich einen Aha-Effekt. Und das bei einem so unscheinbaren Thema wie der Marge von Online-Shops.
In dem Ratgeber steht Folgendes: „Bezahltes Marketing, also bezahlte Werbung über Google, Facebook oder Influencer kostet Geld – wie der Name schon sagt.“ Ein Online-Shop braucht eine entsprechend hohe Marge, die der Betreiber dann zum Teil in Marketing investieren kann. (…) Für eine gute Marge brauchst Du gute Zahlen. Das heißt, das Verhältnis von Einkaufspreis zu Verkaufspreis sollte – als Daumenregel – mindestens 3 zu 1, besser 4 zu 1 oder 5 zu 1 sein.“
Das bedeutet: Je niedriger der Einkaufspreis eines Produktes ist, desto mehr kann ein Unternehmen für Marketing und andere verkaufsfördernde Aktivitäten ausgeben. Und da über einen längeren Zeitraum betrachtet gerade die Unternehmen erfolgreicher sind, die mehr in diese Aktivitäten investieren können als ihre Konkurrenten, setzt mit der Zeit ein verhängnisvoller Trend ein: Die durchschnittliche Qualität der angebotenen Produkte wird immer schlechter. Die Unternehmen mit den billigsten – und damit für den Verbraucher vermutlich schlechtesten – Produkten verdrängen die anderen immer mehr vom Markt. Dieser Prozess setzt sich kontinuierlich fort. Die Situation verschlechtert sich von Jahr zu Jahr mit zunehmender Geschwindigkeit.
Unternehmen versuchen also kontinuierlich, ihren Einkaufspreis zu senken, was sich leider direkt (negativ) auf die Qualität ihrer Produkte auswirkt, und gleichzeitig das Budget für Marketing und andere verkaufsfördernde Aktivitäten immer effizienter auszuschöpfen. Die größten Stellschrauben für Letzteres sind: Steigerung der Qualität des Marketings, Optimierung des Produktes insbesondere hinsichtlich der Wiederkaufsrate und natürlich Lobbyismus. Und genau in diesen Bereichen arbeitet seit Jahrzehnten ein Heer von Experten, deren Ziel es ist, die Psyche der Konsumenten zu hacken und sie in eine Art Abhängigkeit zu treiben.
Ein sehr schönes Beispiel für „Qualitätssteigerung im Marketing“ lieferte Philipp Morris Deutschland vor mehr als 10 Jahren mit seiner Kampagne „Don’t be a Maybe“ für die Zigarettenmarke Marlboro. Untersuchungen der Universität Hamburg haben ergeben, dass der Zigarettenkonzern seit Beginn der Kampagne mindestens 30.000 Jugendliche neu zum Zigarettenkonsum animiert hat. Die meisten davon vermutlich wiederkehrende Käufer, vielleicht ein Leben lang. Dadurch erzielte Philip Morris einen zusätzlichen Umsatz von mehr als sieben Millionen Euro pro Jahr. Die Kampagne wurde 2013 vom Landratsamt München bis auf Weiteres verboten. Sie verleite Jugendliche zum Rauchen und richte sich speziell an diese Gruppe der „Unentschlossenen“, hieß es. Doch Philip Morris klagte gegen den Freistaat Bayern – und gewann. 2016 folgte die ebenso erfolgreiche „You-decide“-Kampagne, gegen die von staatlicher Seite nichts mehr unternommen wurde.
Ich möchte nicht wissen, wie viele Arbeitsstunden von Werbefachleuten, Agenturen, Psychologen und Lobbyisten in diese Kampagne geflossen sind. Wie kann man sich als Angehöriger der Gruppe der „Unentschlossenen“ gegen diesen unangekündigten und minutiös geplanten Angriff wehren, den man wahrscheinlich nicht einmal bewusst wahrnimmt, weil alles über das Unterbewusstsein an einen herangetragen wird?
Ein schönes Beispiel für „kontinuierliche Produktoptimierung“ sind unsere heißgeliebten Chips, ein Lebensmittel, das unserer Gesundheit mehr schadet als nützt und dessen Absatz dennoch seit seiner Einführung kontinuierlich und stark steigt. Von Jahr zu Jahr haben immer mehr und immer besser ausgebildete Lebensmittelingenieure aller Fachrichtungen an ihrer „Optimierung“ gearbeitet. In ihren Meetings konzentrieren sie sich auf abstrakte Produkteigenschaften wie „Bliss Points“, „Vanishing caloric density“ oder „Snackability-Faktor“. Eine ansprechende Farbe, Geruch und Haptik der Chips animieren zum häufigen Zugreifen. Im Mund entsteht ein intensives, knuspriges, aber nicht übersättigendes Mundgefühl. Leicht schmelzende Zutaten sorgen dafür, dass sich die Chips im Mund schnell zu einem Brei auflösen, der den Schluckreflex auslöst. Im Idealfall hat die Hand in der Zwischenzeit schon wieder in die Tüte gegriffen und die nächste Portion zum Mund geführt. Diese „Genusskette“ wird von den Food-Designern Jahr für Jahr genau unter die Lupe genommen, immer auf der Suche nach den kleinsten Stellschrauben, die ihre Effizienz erhöhen. Auch gegen diesen Angriff, der schon vor dem Fernseher in Form von Werbung beginnt und im Supermarkt seine entscheidende Phase erreicht, kann Homo sapiens mit seiner angeborenen Neigung zu Fett, Salz und Zucker nichts mehr ausrichten.
Ich könnte jetzt ein ganzes Buch mit Beispielen für diesen ungleichen Kampf zwischen Konzernen und Konsumenten schreiben, aber ich denke, es ist klar, worauf ich hinaus will:
Wir sind einem permanenten und wirklich auf allen Ebenen unseres Lebens ausgetragenen Angriff von Wirtschaftsakteuren ausgesetzt, die nicht unser Bestes wollen, im Gegenteil: Aufgrund der Logik des Profits setzen sich immer mehr diejenigen durch, deren Produkte für uns am schlechtesten sind, weil sie schlicht und einfach die billigsten sind. Sie warten mit einem Heer von Spezialisten auf, die unsere Psyche hacken und uns zu berechenbaren Abnehmern ihres Mülls machen.
Vor diesem Hintergrund zu behaupten, es liege allein in der Verantwortung des Verbrauchers, durch sein Konsumverhalten etwas zum Positiven zu verändern, ist aus meiner Sicht blanker Hohn. Vielmehr müsste der Staat gegen die Wirtschaftsakteure vorgehen und Verbote aussprechen, die einer weiteren Volksvergiftung wirksam entgegenwirken.