Über das VORSTELLBARE

Mein letzter Eintrag liegt nun schon wieder vier Monate zurück aber dieses Mal wundert es mich nicht so sehr wie beim letzten Mal. In den letzten vier Monaten sind wieder so unglaublich viele Dinge passiert, dass ich mich gar nicht auf ein einzelnes Thema fokussieren konnte.

Ich bin mittlerweile schon zweimal gegen das Corona-Virus geimpft worden und gehöre damit einem wachsenden Anteil der Bevölkerung in Deutschland an. Etwas mehr als die Hälfte der Menschen hat zum jetzigen Zeitpunkt eine Impfung erhalten und knapp ein Drittel ist bereits doppelt geimpft. Das schlägt sich mittlerweile auch deutlich in den Infektionszahlen nieder. In Münster, wo ich gerade zu Besuch bei meiner Mutter und Schwester bin, sind aktuell nach Angaben des Robert-Koch-Instituts nur noch 48 Menschen mit dem Corona-Virus infiziert und die 7-Tage-Inzidenz, also die Zahl der Neuinfektionen pro 100.000 Einwohner in den letzten sieben Tagen, liegt unter 3. Das sind natürlich sehr gute Zahlen und man könnte also meinen, dass wir das Schlimmste hinter uns haben.

Aber ist dem auch so? Können wir mit dem vermeintlichen Sieg über das Virus jetzt wirklich einfach wieder zu unserem „normalen“ Leben vor Corona zurückkehren und weitermachen als wäre nichts gewesen? Für viele klingt das sicherlich verlockend und irgendwie auch beruhigend, aber ich denke, wir wären gut beraten, wenn wir das nicht tun würden.

Wir sollten versuchen, das Geschehene und seine Ursachen zu verstehen und daraus Rückschlüsse ziehen, was wir anders machen können, damit es sich nicht wiederholt. Was jetzt schon – zum Teil sehr erfolgreich – passiert ist, ist die (mikro-)wissenschaftliche Erforschung des Virus und der Möglichkeiten seiner Bekämpfung. Was aber mindestens genauso wichtig ist, ist das Verständnis des Großen und Ganzen, sprich: Wie ist diese Pandemie in die globalen und historischen Zusammenhänge einzuordnen? Da auch diese Makro-Zusammenhänge sehr komplex und im Detail nur schwer vermittelbar sind, lohnt es sich, eine leichter verständliche und bildliche Geschichte zu erzählen.

Bildlich gesprochen kann man die Corona-Pandemie mit einem Tsunami vergleichen, der sich seinen Weg mit unbändiger Gewalt durchs Land gepflügt und dabei viele Todesopfer unter der vollkommen überraschten Küstenbevölkerung gefordert hat. Jetzt gerade befinden wir uns in dem Moment, in dem die erste Welle langsam wieder ins Meer abfließt. Überall um uns herum können wir die Schäden erkennen, die der Tsunami verursacht hat. Viele haben Familienangehörige, Freunde und gute Bekannte zu beklagen, die an Corona gestorben sind. Andere sind arbeitslos geworden oder sehen einer sehr unsicheren Zukunft entgegen. Fast allen tat die Zeit der Isolation in den eigenen vier Wänden nicht gut und sie leiden unter den Folgeerscheinungen häuslicher Gewalt, mangelnder Bewegung und sozialer Vereinsamung.

An dieser Stelle ist es vielleicht noch einmal wichtig, die ganz wesentlichen Merkmale eines Tsunamis hervorzuheben. Neben seiner hohen Zerstörungskraft sind besonders die Tatsachen, dass es sich dabei um mehrere aufeinanderfolgende Flutwellen handelt und die eigentliche Ursache auch durchaus weit entfernt liegen kann, besonders charakteristisch für einen Tsunami.

Wir sollten uns jetzt also fragen, was die Ursache war und mit welchen weiteren Wellen wir noch rechnen müssen. Die Antworten auf diese Fragen sind meiner Meinung nach sehr einfach:

Das Erdbeben, das diesen Tsunami ausgelöst hat, ist die Bevölkerungsexplosion und die mit ihr einhergehende rücksichtslose Ausbeutung der Natur. Die nächsten Wellen, die sich am globalen Horizont schon ganz klar abzeichnen, sind neben weiteren Pandemien, das rapide Artensterben, die Klimaerwärmung, die Übersäuerung der Meere und atomare Kriege, um nur einige zu nennen.

Wir wurden also von einem Tsunami getroffen, den wir selbst ausgelöst haben und wir haben erst die erste Welle überstanden. Jetzt geht es einzig und allein um die Frage, ob wir uns als fähig erweisen werden, die außerordentlich komplexen und instabilen ökologischen Verhältnisse, die wir für uns selbst geschaffen haben, zu überleben.

Es müssen dringend wirkliche Veränderungen her und dabei geht es nicht mehr um Optimierungen bestehender Strukturen, Prozesse oder Technologien, sondern um eine grundsätzliche Neugestaltung unserer gesellschaftlichen Miteinanders und unserer Wechselwirkung mit diesem Planeten. Alle anstehenden Veränderungen müssen der oberste Prämisse unterliegen, sich vom Postulat des Wachstums zu lösen. Bei einem Krebsgeschwür löst ungehemmtes Wachstum bei jedem größte Besorgnis aus, wie sollte es in unserem Fall also zwingend positiv sein?

Hiermit könnte ich es für diesen Beitrag eigentlich belassen aber was an dieser Stelle besonders interessant ist, ist die Tatsache, dass eine Abkehr vom Wachstum für viele von uns kaum vorstellbar zu sein scheint. Genauso war auch die Möglichkeit, von einer globalen Pandemie heimgesucht zu werden, Mitte 2019 für die allermeisten kaum vorstellbar. Uns allen scheint es also an Vorstellungskraft und Fantasie zu fehlen und das ist schon wirklich bemerkenswert, da es doch gerade diese Eigenschaft ist, die uns Menschen so einzigartig macht.

Kann es also sein, dass wir uns in unserer selbst geschaffene Welt systematisch unserer eigenen Vorstellungskraft berauben? Beispiele dafür gibt es zumindest zu genüge – im Alltag, in der Politik, im Beruf oder bei Erziehung unserer Kinder.

Im Alltag sehen wir es an unserem unreflektierten Umgang mit den neuen Medien. Mit der rasend schnell voranschreitenden Digitalisierung verbringen immer mehr Menschen immer mehr Zeit damit, auf einen Screen zu schauen. Dass die so verbrachte Zeit deutlich weniger Sinneseindrücke erzeugt und die Fantasie dadurch nicht unbedingt stimuliert wird, ist recht offensichtlich.

Aber auch in Politik und Beruf gibt es systemische Fehlstellungen, die dazu führen, dass unsere Vorstellungskraft tendenziell unterdrückt wird.

Aufgrund der Kurzfristigkeit, die durch den politischen Wettbewerb entsteht, fährt die Politik mehr oder weniger auf Sicht, was eine echte Gefahr ist. Es gibt überhaupt keine Ansätze und Versuche mehr, ganz grundsätzliche Änderungen auf struktureller Ebene vorzunehmen, sondern man belässt es bei fantasielosen Versuchen innerhalb des bestehenden Systems kleinere Anpassungen vorzunehmen. Die Corona-Krise hat ja gezeigt, wozu die Politik grundsätzlich fähig ist und welche Gelder sie mobilisieren kann aber leider war die Mittelverwendung wieder nur sehr kurzfristig gedacht. Anstatt beispielsweise die breite Bevölkerung durch ein bedingungsloses Grundeinkommen vor der Krise zu schützen und damit einen wirklich vielversprechenden Weg aus dem Wachstumskrise einzuschlagen, wurden große Konzerne staatlich unterstützt und hochkomplexe Corona-Hilfen und Überbrückungsgelder bezahlt oder zumindest in Aussicht gestellt.

Im Berufsleben ist vor allem nüchternes und faktenbasiertes Arbeiten gefragt. Wenn man es damit dann aber an die Spitze einer Organisation geschafft hat, dann braucht man genau das Gegenteil: Risikobereitschaft und Fantasie. Aber genau das fehlt den meisten CEOs, weswegen sie als erste Amtshandlung dann auch meist den Bock zum Gärtner machen, bzw. McKinsey oder Roland Berger mit der strategischen Neuausrichtung beauftragen.

Auch unser Schulbetrieb scheint mir in dieser Form leider nicht sonderlich förderlich für die Fantasie unserer Kinder zu sein. Ich habe eher die Befürchtung, dass wir unsere Kinder schon ab der ersten Klasse auf eine Karriere bei McKinsey vorbereiten, als dass wir ihre individuellen Stärken, Interessen und Vorlieben fördern.

Als Antwort auf das oben beschriebene Tsunami-Szenario bedarf es also dringend systemischer Antworten auf allen Ebenen, die unsere Fantasie wieder beleben und belohnen. Bildlich gesprochen sind Fantasie und Vorstellungskraft die Abwehrkräfte unserer Gesellschaft. Sie ermöglichen es uns auf die verschiedensten Bedrohungen zu reagieren. Eine Stärkung dieser Abwehrkräfte – oder zumindest eine Verhinderung ihrer weiteren systematischen Schwächung – würde unsere gesamtgesellschaftliche Resilienz erhöhen. Sie würde uns helfen, die nächsten Wellen klarer vorherzusehen und wirklich neue und sinnvolle Maßnahmen für ihre Abwehr zu ergreifen.