Seit meinem letzten Beitrag über den ‚Gott Geld‘ und seine weitreichenden Auswirkungen auf unsere Gesellschaft hat mich dieses Thema nicht mehr losgelassen. Irgendwo hinter dem Schleier des Geldes liegt für mich eine wesentliche Ursache für die Schieflage oder besser den Teufelskreis, in den wir als Menschheit geraten sind und in den wir den Rest der Welt mit hineinziehen. Geld entmenschlicht unser Handeln. Unser Zusammenleben wird „finanzialisiert“. Alles, was wir tun, geschieht nur noch unter der Prämisse maximaler Rentabilität.
Deshalb habe ich mich in den letzten Monaten noch einmal intensiv mit den verschiedenen Facetten des Geldsystems auseinandergesetzt und bin dabei auf etwas ebenso Interessantes wie Beängstigendes gestoßen.
Zunächst bietet eine Geldwirtschaft natürlich zahlreiche und oft zitierte Vorteile für unsere Gesellschaft wie Tauscheffizienz, Wertaufbewahrungsfunktion oder Innovationsförderung. Als universelle Maßeinheit erleichtert Geld die Bewertung und den Vergleich verschiedener Güter und Dienstleistungen und fördert damit die Entwicklung spezialisierter Berufe und Fähigkeiten, da es den reibungslosen und schnellen Austausch dieser Leistungen und Produkte überhaupt erst ermöglicht. Die Möglichkeit, Kapital zu sparen und zu investieren, aber auch die Möglichkeit, für ein Projekt einen Kredit aufzunehmen, fördert Innovation und technologischen Fortschritt. Diese Aspekte – um nur einige zu nennen – haben zweifellos wesentlich zu unserem heutigen Wohlstand und unserer gesamtgesellschaftlichen Produktivität beigetragen.
Und dann bin ich bei meinen Recherchen auf ein Phänomen gestoßen, das mich zutiefst beunruhigt und das möglicherweise der Kern vieler Probleme unseres Wirtschaftssystems ist. Dieses Phänomen ist unter dem Begriff „Keystroke-Kapitalismus“ bekannt, der die moderne Praxis beschreibt, Geld digital zu erzeugen – oft durch nichts weiter als das Drücken einer Taste auf einer Tastatur.
Natürlich sind die großen Probleme, mit denen wir heute zu tun haben, immer multikausal, aber dieser eine Sachverhalt scheint dem Ganzen zugrunde zu liegen und die Probleme immer weiter zu verschärfen. Es handelt sich, bildlich gesprochen, um eine Anomalie im Maschinenraum des Kapitalismus. Diese Anomalie hängt eng mit dem Privileg der Geldschöpfung zusammen und wirkt sich direkt auf die verfügbare Geldmenge und deren Verteilung aus.
Ursprünglich basierte unser Finanzsystem auf realen Werten wie Gold und Silber. Diese Edelmetalle bildeten jahrhundertelang das Fundament der Wirtschaft. Im Mittelalter begann sich dieses System zu verändern, als Kaufleute und Bankiers zunehmend auf Bankschulden und Buchgeld zurückgriffen. Statt Gold physisch zu transferieren, veränderten die Banken die Kontostände ihrer Kunden durch einfache Buchungsvorgänge. Diese Form des Geldes, die nur als Zahl in den Bankbüchern existierte, setzte sich aufgrund ihrer Effizienz und Praktikabilität rasch durch.
Im Laufe der Zeit entwickelte sich das Bankensystem weiter und das Vertrauen in das Buchgeld wuchs. Dieses Vertrauen war jedoch nicht unerschütterlich, und es kam immer wieder zu Bankenkrisen und „Bank Runs“, bei denen viele Menschen gleichzeitig versuchten, ihre Einlagen abzuheben. Um die Instabilität zu begrenzen, wurde das Bankensystem schließlich durch die Einführung von (staatlichen) Zentralbanken ergänzt, die als Hüter der (materiellen) Reserven fungierten und so eine neue Vertrauensebene schaffen sollten. Die Zentralbanken hielten Gold und andere Reserven, während die Geschäftsbanken und ihre Kunden nur (fraktionale) Ansprüche in Form von Buchgeld auf diese Reserven hatten.
Dieses System erreichte seinen Höhepunkt im Bretton-Woods-Abkommen nach dem Zweiten Weltkrieg, das den US-Dollar zur Leitwährung der westlichen Welt erklärte und eine (teilweise) Golddeckung des Dollars vorschrieb. 1973 wurde die Goldbindung des Dollars dann endgültig aufgehoben. Seither existieren die Reserven nur noch als buchhalterische Einträge ohne materiellen Wert und es entstand unser heutiges Fiat-Geldsystem, in dem Geld nur noch durch staatliche Autorität gedeckt ist.
So weit, so gut. Wir haben also den Finanzmarkt durch unsere demokratischen Mitbestimmungsrechte unter Kontrolle, oder? Die Antwort lautet: Leider nicht.
Im heutigen Finanzsystem sind nämlich die Privat- und Geschäftsbanken die eigentlichen proaktiven Akteure, die über die Kreditvergabe den Hauptteil der Geldschöpfung übernehmen und somit indirekt auch über dessen Verteilung bestimmen (dazu aber in einem späteren Beitrag noch mehr). Entgegen dem traditionellen Bild, dass Banken nur vorhandenes Kapital verleihen, haben sie sich längst vom Kapitaleigentum emanzipiert. Stattdessen fungieren sie als die eigentlichen Initiatoren der Geldschöpfung, während die Zentralbanken eine reaktive Rolle einnehmen und die daraus resultierende Nachfrage nach Zentralbankgeld zuverlässig befriedigen.
Der zugrundeliegende Prozess ist denkbar einfach und zugleich von großer Tragweite: Wenn eine Privat- oder Geschäftsbank einem Kunden einen Kredit gewährt, wird das Geld nicht aus vorhandenen Einlagen entnommen. Es entsteht vielmehr in dem Moment, in dem die Bank den Betrag auf das Konto des Kreditnehmers gutschreibt. Dies geschieht buchstäblich per Knopfdruck oder „Keystroke“ – daher der Begriff. Das neue Geld entsteht in Form von Giralgeld, also digitalem Geld, ohne dass dafür physisches Bargeld oder zuvor angesammelte Ersparnisse benötigt werden. Damit ist die Geldschöpfung de facto privatisiert.
Dabei spielt natürlich das Verhältnis zwischen Geschäftsbanken und Zentralbanken eine entscheidende Rolle. Zentralbanken wie die Europäische Zentralbank (EZB) oder die Federal Reserve steuern den Geldmarkt – zumindest in der Theorie – unter anderem durch Mindestreserveanforderungen an die Geschäftsbanken. In der Praxis stellen die Mindestreserveanforderungen jedoch keine direkte Beschränkung oder Obergrenze für die Kreditvergabe der Geschäftsbanken dar. Die Aufgabe der Zentralbanken ist es, das gesamte Finanzsystem zu stabilisieren, weshalb sie die neuen Kreditvolumina den Geschäftsbanken, die in Vorleistung treten, immer auch retrospektiv verlässlich gewähren.
Im heutigen „Keystroke-Kapitalismus“ haben wir es mit einem Finanzsystem zu tun, in dem die Geschäftsbanken die aktive Rolle der Geldschöpfung übernehmen. Die Produktionskosten für Privat- und Geschäftsbanken für neues Geld sind dabei gleich Null – oder anders formuliert: Der Bock ist zum Gärtner gemacht worden.
Welche Konsequenzen diese Art des Kapitalismus für unsere Gesellschaft und den Umgang mit unserer Umwelt hat, möchte ich in den nächsten Beiträgen genauer beleuchten.
Anmerkung: Um den Beitrag verständlich zu halten und nicht zu sehr ins Detail gehen zu müssen, habe ich versucht, nur die wesentlichen Aspekte des Keystroke-Kapitalismus zu beschreiben. Ich empfehle jedoch jedem, der sich näher mit dem Phänomen beschäftigen möchte, den folgenden Fachbeitrag von Prof. Dr. Aaron Sahr zu lesen.
Aaron Sahr: Keystroke-Kapitalismus – Ungleichheit auf Knopfdruck