Mit Schrecken habe ich festgestellt, dass mein letzter Blog-Eintrag mehr als vier Monate zurückliegt. Die Welt war in einem Stillstand und gleichzeitig hat sie sich schneller gedreht als je zuvor. So schnell, dass ich gar nicht dazu gekommen bin, hier in meinen Blog zu reflektieren, was für gravierende Veränderungen und Ereignisse stattgefunden haben und gerade in diesem Moment auch noch stattfinden. Einige der Geschehnisse waren offensichtlich und jagen einem unmittelbar große Angst ein, wie z.B. der Sturm aufs Kapitol Anfang des Jahres oder die neuen Corona-Mutationen. Das alles würde schon reichen, um einem schlaflose Nächte zu bereiten, aber leider ist das nur die Oberfläche der Veränderungen, die aktuell in dieser Welt vor sich gehen. Die Dinge, die mehr oder weniger unbeobachtet passieren sind häufig nicht weniger beängstigend als ein Putschversuch in den USA oder eine globale Pandemie.
Ein Beispiel: Ende letzten Jahres hat das Bielefelder Konzern Oetker das Münsteraner Start-up Flaschenpost für eine Milliarde Euro geschluckt. Das hatte mich schon etwas verwundert. Wie kann es sein, dass mitten in meiner alten Heimat Westfalen plötzlich Zustände wie im Silicon-Valley herrschen? Meines Wissens nach war Flaschenpost erst ein paar Jahre alt und hatte bisher nur Verluste von zwei oder sogar dreistelligen Millionenbeträgen eingefahren. Mir kam der Kaufpreis von einer Milliarde doch etwas übertrieben vor und daher habe ich mich mal etwas genauer damit auseinandergesetzt.
Scheinbar wurde der Preis im Rahmen eines Bieter-Gefechtes zwischen Coca Cola und Oetker noch etwas in die Höhe getrieben. Beide Konzerne wollten sich das Start-up einverleiben – koste es was es wolle. Was diese Übernahmeschlacht aber noch unverständlicher für mich gemacht hat, war die Tatsache, dass Oetker in den vergangenen Jahres selber ein Start-up names „Durstexpress“ aufgebaut hat, dass mehr oder weniger eine genaue Kopie von Flaschenpost war. Die Erklärung war der bisherige Tätigkeitsradius der beiden Unternehmen. Während Durstexpress vornehmlich im Süden Deutschlands aktiv war, hatte sich Flaschenpost auf den Norden Deutschlands und angrenzende Länder wie die Niederlande konzentriert. Wenn man also beide Dienste zusammenführt, hat man mit einem Schlag eine deutschlandweite Plattform für Getränkelieferungen.
Das macht schon Sinn, allerdings habe ich immer noch nicht verstanden, wie das Geschäftsmodell dieser digitalen Getränkehändler genau funktionieren soll und warum man bereit ist, dafür eine Milliarde Euro zu bezahlen. Die Getränkepreise für den Endkunden sind ja schließlich dieselben wie bei stationären Getränkehändlern und ich gehe mal davon aus, dass deren Marge eh schon nicht die allerhöchste war. Nur kommt jetzt mit der kostenlosen Lieferung an den Endkunden ein weiterer Kostenblock hinzu, der das bisschen Marge ja eigentlich komplett aufzehren müsste.
Aus Sicht von Oetker sieht das aber alles etwas anders aus. Wenn sie mit der Zusammenführung der beiden Start-ups eine Monopol-ähnliche Getränke-Bestellplattform für ganz Deutschland betreiben, sind sie die Besitzer der Daten und können sie zu ihrem Vorteil nutzen. So kann sich der hohe Kaufpreis allein schon dadurch recht schnell für Sie amortisieren, dass sie ihre eigenen Produkte immer etwas prominenter und günstiger auf dem Bildschirm des Besuchers platzieren als die der Konkurrenz. Noch bevor der stationäre Handel endgültig niedergerungen bzw. durch das Angebot der kostenlosen Lieferung aus dem Markt gedrängt sein wird, werden sie auch wieder an der Preisschraube drehen und die zusätzlichen Lieferkosten komplett oder zumindest teilweise an den Kunden weitergeben. Zu guter Letzt können sie als Plattformbetreiber nun auch die Spielregeln für die angeschlossenen Getränkehersteller frei bestimmen und so noch tiefer in deren Taschen greifen. Um z.B. besser auf der Plattform in einer speziellen Produktkategorie wie z.B. „Mineralwasser“ gefunden zu werden, können sie den Herstellern entsprechende Werbemöglichkeiten auf der Plattform anbieten, die sie sich dann natürlich teuer bezahlen lassen. Für Oetker scheint dieser auf den ersten Blick total absurd scheinende Deal also aus vielerlei Gründen durchaus Sinn zu machen. Für die Mehrheit der Getränkehändler bedeutet er aber ihr sicheres Ende. Sie müssen sich eine neue Existenz aufbauen und die Diversität unserer Städte ist wieder um einen kleinen Teil ärmer geworden. Ein Gewinner, viele Verlierer.
Je länger ich mich mit dem Flaschenpost-Exit befasst habe, umso häufiger bin ich auf dieselben Vorgänge und Muster in anderen Branchen aufmerksam geworden. Die großen Gewinner der Corona-Krise sind die Plattformen. Allen voran natürlich Amazon, die gerade dabei sind, den kompletten Einzelhandel abzuschaffen. Für Investoren und selbsternannten Entrepreneure, die von ihrer Persönlichkeit her vor nicht allzu langer Zeit alle bei McKinsey & Co gelandet wären, ist Amazon das leuchtende Vorbild, dem es nachzueifern gilt. In allen Bereichen des Lebens versuchen sie, mit sehr viel Geld Plattformen zu errichten, die dann als Quasi-Monopol den jeweiligen Markt beherrschen. Dabei sprechen sie gezielt die niedersten Triebe der Konsumenten wie Faulheit oder Geiz an, was übrigens ein ganz wesentlicher Teil ihres Erfolges ist.
Besonders erschreckend ist diese Entwicklung im Moment in der Gastronomie zu beobachten, wo in den letzten Jahren eine Konsolidierung der verschiedenen Essenslieferdienste stattfand. Pünktlich zur Corona-Krise hatte der Essenslieferdienst „Lieferando“ in Deutschland eine monopolartige Position erlangt. Im zweiten großen Lockdown Ende des letzten Jahres hat fast ganz Deutschland sein Essen über diese eine Plattform bestellt.
Ich will jetzt gar nicht im Detail darauf eingehen, wie sehr die teilnehmenden Gastronomen von Lieferando und Co ausgequetscht werden, sondern vor einem Szenario warnen, dass die oben erwähnten High-Perfomer in der Management-Etage der Essenslieferdienste schon ganz konkret planen: Sie wollen, wie auch schon die Kollegen bei der Flaschenpost, die gewonnenen Daten nutzen, um den auf ihrer Plattform versammelten Anbietern direkt Konkurrenz zu machen. Amazon hat es mit seinem eigenen Produktsortiment „Amazon Basics“ vorgemacht. Sie mussten sich nur die Daten anschauen, um zu sehen, welche Produkte in welchen Regionen von welchem Käufern zu welchen Jahreszeiten, usw. besonders profitabel sind. Diese haben sie dann selber irgendwo in Asien produzieren lassen und unter der Eigenmarke „Amazon Basics“ immer etwas günstiger und prominenter als die Konkurrenzprodukte angeboten. Die ursprünglichen Anbieter dieser Produkte konnten nichts dagegen machen. Für Amazon hingegen liegt das Risiko in einer solchen „Produktentwicklung“ bei Null.
Und genau diese „retrograde“ Produktentwicklung ist es, was nun auch die Betreiber der Essenslieferdienste vorhaben. Sie bauen in den Städten Großküchen auf, in denen die beliebtesten Gerichte zubereitet und anschließend ausgeliefert werden. Vermarktet werden diese Gerichte über hauseigene „Ghost Restaurants“. Dabei handelt es sich im Grunde nur um virtuelle Marken ohne eigenen Restaurantbetrieb. Für den Besucher der Apps oder Webseiten der Essenslieferdienste unterscheiden sie sich nicht von echten Restaurants. Die Großküchen kann man sich dann in etwa so vorstellen wie ein Logistikzentrum von Amazon oder Zalando, nur dass hier die verschiedenen Gerichte der Ghost Restaurants an verschiedenen Stationen gekocht werden. Die Arbeitsbedingungen in diesen Kochfabriken sind dann sicher auch vergleichbar mit denen von Amazon. Aber natürlich planen die Essenslieferdienste noch weiter. Früher oder später wollen sie die Großküchen komplett automatisieren, in dem alle Geräte von Robotern bedient werden. Aber dann dürfte die meisten echten Restaurants schon pleite gegangen sein, weil sie im Preiskampf gegen die Ghost Restaurants auf einer feindlichen Plattform mit ihrer Kostenstruktur eh keine Chance haben. Für die Lebensqualität in unseren Städten wäre das ein Supergau.
Hier sollten der Staat und die Stadtregierungen meiner Meinung nach schnellstmöglich tätig werden und beim Aufbau von „Essenslieferdiensten von Gastronomen für Gastronomen“ unterstützen. Die Gastronomen könnten sich dann auf ihrer eigenen Plattform mit fairen Spielregeln und ggfs. sogar einer jährlichen Gewinnausschüttung für alle Teilnehmer vereinen und würden den kommerziellen Essenslieferdiensten damit ihrer Geschäftsgrundlage berauben. Die Städte würden damit ihre kulinarische Vielfalt bewahren, was sich natürlich auch positiv auf andere Bereiche wie Tourismus, allgemeine Lebensqualität, Attraktivität als Wirtschaftsstandort usw. auswirken würde. Im Erfolgsfall würde sich dieses Modell wahrscheinlich auch auf andere Branchen oder Regionen übertragen lassen.
Überspitzt gesagt kann man sagen, dass mit jeder neuen Plattform eine Branche ausstirbt. Aber ich sehe noch weitere Gefahren in dem Digitalisierungsschub, der gerade alles und jeden erfasst. Um der hohen Ansteckungsgefahr des Corona-Virus zu begegnen, wurden alle Jobs, bei denen es möglich war, ins „Home-Office“ verlegt. Viele der betroffenen Mitarbeiter haben es zunächst begrüßt, da sie nun etwas freier und selbstbestimmter arbeiten konnten und nicht mehr jeden Tag ins Büro pendeln mussten. Aktuell arbeiten die Unternehmen noch daran, diese Umstellung zu vollziehen und die passenden Angebote der aus dem Boden sprießenden digitalen Arbeits- und Austauschplattformen (oder sollte ich besser sagen: „zur Hilfe eilenden Einhörnern“?), wie z.B. Personio, Slack, Zoom, etc. auszutesten. Doch was machen die Unternehmen, wenn sie ihre Jobs vollständig in der Cloud eingerichtet und verankert haben? Dann verschieben sie sie in Länder, in denen das Lohnniveau geringer ist. Schließlich macht es dann aus Unternehmenssicht ja keinen Unterschied mehr, ob ein virtueller Job von jemanden aus München, Warschau oder Dakha erledigt wird.
Die Veränderungen, die in diesen Zeiten im Hintergrund stattfinden sind enorm und sie gehen in einer solchen Geschwindigkeit von statten, dass man einem beim Zuschauen im wahrsten Sinne schwindelig wird. Wir befinden uns in dem fast senkrechten Teil in der Exponentialfunktion der Menschheitsentwicklung und an dieser Stelle enden alle Graphen, die ich zu dieser Funktion kenne. Der Grund ist einfach: Auf dem Papier / Bildschirm gibt es schlichtweg keinen Platz mehr um die weitere Entwicklung darzustellen. Ich bin gespannt, ob der auf unserem Planeten zur Verfügung steht.