Es ist erstaunlich, wie schnell sich die Welt um uns herum verändert. Ich habe es schon oft erwähnt, die Veränderungsgeschwindigkeit nimmt exponentiell zu. Waren die Veränderungen nach dem Zweiten Weltkrieg noch überschaubar, so haben sie sich seit Beginn dieses Jahrhunderts rasant beschleunigt, und wir befinden uns heute fast im senkrechten Abschnitt der Kurve, in dem fast wöchentlich neue bahnbrechende Nachrichten auf uns einprasseln.
Einen wesentlichen Beitrag dazu leistet Donald Trump, der seit seinem Amtsantritt vor wenigen Wochen alles, aber auch wirklich alles auf den Kopf stellt und an allen Fronten neue Realitäten schaffen will.
Das eigentlich Faszinierende ist, dass der wohl verlogenste Mensch auf diesem Planeten die wohl ehrlichste Politik betreibt. Im Gegensatz zu seinen Vorgängern gibt er nicht mehr vor, im Namen von Werten und Moral zu handeln und der Beschützer des Weltfriedens zu sein, sondern er legt seine Beweggründe und Motive offen.
Ihm geht es um Gewinn und Gewinnen. Seine Politik hat sich völlig von westlichen Werten verabschiedet und orientiert sich ausschließlich an kapitalistischen Mechanismen und Maßstäben. Sein Unternehmen sind die USA und alle anderen Staaten sind Konkurrenten, die es entweder zu schlucken oder zu schwächen gilt. Insofern ist Donald Trump tatsächlich viel ehrlicher als alle seine Vorgänger, die im Grunde dieselben Motive hatten, aber ihre Politik hinter einem Schleier aus Werten und Moral versteckt haben.
Er ist auch viel näher am Puls der Zeit als seine Vorgänger, denn der Kapitalismus hat es geschafft, in wirklich alle Lebensbereiche einzudringen und sie nach seinen Regeln umzugestalten. Nicht nur die Politik ist davon betroffen, sondern auch unser Privatleben und unser gesellschaftliches Zusammenleben. Jeder versucht heute, die „beste Version von sich selbst“ zu sein und sich als Produkt zu Markte zu tragen. Man pfeift auf Werte und Moral und richtet sein ganzes Handeln nur noch an finanziellen Zielen aus. Wer reich ist, ist gesellschaftlich angesehen. Auf arme Menschen schaut man herab.
Das Schlimme ist, dass der Kapitalismus einen eingebauten Konstruktionsfehler hat. Und dieser führt dazu, dass wir nicht mehr in der Lage sind, unsere wirklichen Probleme zu erkennen, geschweige denn, sie zu lösen.
Um das zu erklären, muss ich etwas ausholen. Ich bin selbst Unternehmer und habe schon viele Ratgeber für Existenzgründer gelesen, die einem erklären wollen, wie man schnell und einfach ein Unternehmen gründet, das einen permanenten Cash-Flow ohne viel Arbeit generiert. Die wichtigste Lektion lautet: „Finde ein Problem, das es wert ist, gelöst zu werden – und du wirst reich.“ Dabei ist es besser, die Probleme der Reichen zu lösen. Denn diese haben eine höhere Zahlungsbereitschaft, so dass auch mit kleinen Absatzmengen viel Geld verdient werden kann. So kann man relativ einfach starten, ohne große Vorabinvestitionen in Produktionsmittel o. Ä. tätigen zu müssen.
Das Mantra des Kapitalismus lautet also genauer: „Finde ein Problem reicher Menschen oder Bevölkerungsgruppen, das sich zu lösen lohnt – und du wirst reich„.
Diese einfache Wahrheit erklärt, warum jedes Jahr Milliarden in die Entwicklung von Luxusgütern, Apps zur Optimierung der Freizeit reicher Menschen oder neue Varianten der Same-Day-Lieferung fließen – während grundlegende menschliche Bedürfnisse wie Bildung, sauberes Wasser oder bezahlbare Pflege weltweit unversorgt bleiben.
Ein Problem ist erst dann „relevant“, wenn jemand dafür bezahlt – und zwar möglichst viel. Und weil Reiche mehr bezahlen können als Arme, konzentriert sich unternehmerisches Denken fast zwangsläufig auf die Wünsche der Wohlhabenden. Das führt zu einer strukturellen Schieflage: Statt Lösungen für die dringendsten gesellschaftlichen oder globalen Probleme zu entwickeln, arbeitet ein Großteil der Wirtschaft daran, marginale Komfortprobleme einer kleinen Bevölkerungsgruppe zu beheben.
Es geht nicht um den gesellschaftlichen Wert einer Lösung, nicht um den Beitrag zum Gemeinwohl oder zur Lebensqualität breiter Bevölkerungsschichten. Es geht um zahlende Zielgruppen, skalierbare Geschäftsmodelle und hohe Renditen. In dieser Welt entscheidet nicht die Dringlichkeit eines Problems über seinen „Wert“, sondern dessen Monetarisierbarkeit. Und je größer die Kaufkraft einer Zielgruppe, desto „wertvoller“ erscheint ihr Problem. Die Folge: Je wohlhabender die Zielgruppe, desto größer die Aufmerksamkeit, die ihr geschenkt wird.
Das ist kein Zufall, sondern Ergebnis eines Systems, das Probleme nicht nach ihrem realen gesellschaftlichen Gewicht bewertet, sondern nach dem Profitpotenzial ihrer Lösung. Das erklärt, warum Ressourcen dorthin fließen, wo Geld ist – und nicht dorthin, wo der Bedarf am größten wäre.
Der Kapitalismus misst Wert in Geld. Das klingt banal, ist aber hochproblematisch – denn es bedeutet, dass alle Leistungen, die keinen finanziellen Ertrag bringen, im ökonomischen Sinne als „wertlos“ gelten. Ganz gleich, wie zentral sie für das Funktionieren einer Gesellschaft sind.
Pflegearbeit, Erziehung, Nachbarschaftshilfe, Bildungsarbeit, Engagement für Obdachlose oder Geflüchtete – all das sind Tätigkeiten mit hohem gesellschaftlichem Mehrwert. Doch weil sie sich kaum oder gar nicht profitabel vermarkten lassen, verschwinden sie in den Schattenzonen der Ökonomie: dem Ehrenamt, der unbezahlten Sorgearbeit oder unterfinanzierten Non-Profit-Bereichen.
In einer Wirtschaft, die auf Kapitalrendite ausgerichtet ist, gibt es für solche Arbeiten keine systemische Anerkennung. Sie gelten als „nett“ und werden sogar häufig belächelt. Was keinen Profit verspricht, gilt als privat, freiwillig oder als Aufgabe des Staates – sofern dieser bereit oder in der Lage ist, einzuspringen. Doch auch staatliches Handeln gerät durch die kapitalistische Neuausrichtung à la Donald Trump zunehmend unter ökonomischen Effizienzdruck.
Besonders deutlich wird diese Logik im Umgang mit sozialen Problemen. Wer beispielsweise in seiner Freizeit eine Pfadfindergruppe leitet, mit Jugendlichen arbeitet oder regelmäßig in einer Suppenküche mithilft, tut etwas gesellschaftlich Hochrelevantes. Doch im kapitalistischen Wertesystem werden diese Tätigkeiten nicht als Arbeit verstanden – sondern als freiwilliges Engagement außerhalb der Wirtschaft.
So wird gesellschaftliche Verantwortung wird ausgelagert – und zwar an diejenigen, die bereit sind, sie unbezahlt zu übernehmen.
Diese Trennung zwischen „marktfähigem“ und „gemeinnützigem“ Handeln ist keine Nebensache, sondern Ausdruck eines fundamentalen Strukturproblems: Der Kapitalismus ist blind für alles, was sich nicht direkt monetarisieren lässt. Und weil er gesellschaftlichen Mehrwert nicht in Gewinn umrechnen kann, verschiebt er ihn systematisch ins Ehrenamt oder in unterbezahlte Bereiche – trotz seiner zentralen Bedeutung für den gesellschaftlichen Zusammenhalt. In einem System, das den Wert eines Problems an der Zahlungsbereitschaft der Betroffenen misst, bleiben die Anliegen derjenigen unsichtbar, die nicht zahlen können. Wer in extremer Armut lebt, hat im kapitalistischen Markt keinen Platz. Seine Probleme sind zwar real – aber aus ökonomischer Sicht irrelevant.
Der Kapitalismus produziert damit eine systematische Blindheit für das Leid von Milliarden Menschen. Tropenkrankheiten, die ausschließlich in armen Ländern verbreitet sind, werden kaum erforscht. Bildungsangebote in Slums lohnen sich für kein Geschäftsmodell. Infrastrukturprojekte, die Dörfern ohne Strom Zugang zu Elektrizität verschaffen würden, sind wirtschaftlich uninteressant – solange niemand dafür bezahlt. Und selbst dort, wo geholfen wird, geschieht es oft nicht aus wirtschaftlichem Interesse, sondern über Spenden, Hilfswerke oder staatliche Entwicklungsförderung.
Dabei geht es nicht nur um den globalen Süden. Auch innerhalb wohlhabender Gesellschaften zeigt sich das Muster. Obdachlose, Alleinerziehende, pflegebedürftige Menschen ohne Rücklagen: Ihre Probleme lassen sich kaum monetarisieren, bzw. sie können nichts dafür bezahlen – und fallen deshalb aus dem Blick unternehmerischer Lösungen. Auch hier gilt: Wo keine zahlende Zielgruppe existiert, existiert auch kein Anreiz, das Problem zu lösen.
Die Folge ist eine doppelte Ungleichheit: Erstens leiden Menschen unter realen, ungelösten Problemen. Zweitens fehlt ihnen auch noch die symbolische Anerkennung, dass ihre Lage überhaupt als „Problem“ wahrgenommen wird. Sie sind nicht nur benachteiligt – sie sind systemisch unsichtbar. Das ist das Problem-Problem des Kapitalismus.
Dass Probleme nur dann als „relevant“ gelten, wenn sie profitabel lösbar sind, ist aber kein Naturgesetz. Es ist die Folge einer spezifischen Wirtschaftslogik – und damit grundsätzlich veränderbar.
Jenseits des kapitalistischen Mainstreams existieren längst Alternativen, die nicht auf Gewinnmaximierung ausgerichtet sind. Sie folgen einer anderen Logik: Kooperation statt Konkurrenz, Bedürfnisorientierung statt Profitfokus, gesellschaftlicher Nutzen statt Kapitalrendite.
Ein Beispiel dafür sind Commons – gemeinschaftlich verwaltete Ressourcen, die weder privat noch staatlich besessen werden. Ob gemeinschaftlich gepflegte Stadtgärten, freie Softwareprojekte oder Nachbarschaftsinitiativen: Commons funktionieren über Beteiligung, Vertrauen und gemeinsame Verantwortung. Sie entstehen dort, wo Menschen ein Problem als gemeinsames Anliegen begreifen – und nicht als Chance zur Gewinnerzielung.
Ähnlich arbeiten Genossenschaften, die ihren Mitgliedern gehören und nicht Investoren verpflichtet sind. Sie können sich an Bedürfnissen orientieren, statt an Renditeerwartungen. Das schafft Räume für Lösungen, die wirtschaftlich tragfähig, aber nicht profitorientiert sind.
Ein besonders eindrucksvolles Beispiel ist die niederländische Pflegeorganisation Buurtzorg. Sie organisiert ambulante Pflege radikal anders: dezentral, selbstverwaltet, ohne Hierarchien und ohne das Ziel, Gewinn zu erwirtschaften. Kleine Teams vor Ort entscheiden eigenverantwortlich, wie sie arbeiten, was gebraucht wird und wie Ressourcen eingesetzt werden.
Das Ergebnis? Höhere Zufriedenheit bei Pflegekräften und Patienten, bessere Versorgung, geringere Bürokratie – und trotzdem wirtschaftlich effizient. Buurtzorg beweist, dass Organisationen auch dann erfolgreich sein können, wenn sie sich nicht primär an Marktmechanismen orientieren, sondern an menschlichen Bedürfnissen.
Solche Modelle sind keine Nischenromantik. Sie zeigen, dass es möglich ist, gesellschaftliche Probleme zu lösen, ohne den Umweg über Zahlungsbereitschaft und Kapitalrendite zu gehen. Sie öffnen Räume für echte Bedürfnisorientierung – gerade dort, wo der Markt versagt.
Die entscheidende Frage ist: Warum gelingt es diesen Ansätzen, Probleme zu lösen, die der Kapitalismus systematisch ignoriert? Und welche Strukturen und Prinzipien bräuchte es, um solche Modelle breiter zu etablieren?